biblischen Schöpfungsbericht

Wie haben Christen den biblischen Schöpfungsbericht interpretiert? 6 Beispiele aus 2.000 Jahren Kirchengeschichte

Muss man den biblischen Schöpfungsbericht wörtlich nehmen oder nicht? Widersprechen sich die Aussagen der Bibel mit den Erkenntnissen der Wissenschaft? In einem vorherigen Artikel habe ich aufgezeigt, dass zwischen beiden kein Widerspruch besteht (siehe mein Artikel: Genesis und das Alter der Erde), was heute von vielen Auslegern und Theologen auch so gesehen wird. 

Dennoch glauben heute immer noch viele Christen, dass eine buchstäbliche Lesart von 1. Mose 1 die einzig Richtige wäre, und bestehen darauf, dass die Bibel zweifellos eine junge Erde von wenigen tausend Jahren lehrt.

Ihnen gegenüber stehen viele Menschen, die der Bibel und Christen skeptisch gegenüberstehen, weil sie ebenfalls der Meinung sind, dass die Bibel genau dies lehre – nur mit dem Unterschied, dass sie diese Ansicht natürlich für absurd halten. 

In diesem Artikel möchte ich jedoch aufzeigen, dass die wörtliche Interpretation von 1. Mose 1 keineswegs die einzige Meinung innerhalb der christlichen Kirche gewesen ist, sondern dass von Anfang an führende Theologen der Meinung waren, dass der Text nicht wörtlich genommen werden muss – ohne dabei die Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel aufzugeben.

Sowohl Befürworter der wörtlichen Interpretation als auch Bibelkritiker stellen sich die Situation oftmals wie folgt vor: 

Über fast zwei Jahrtausende war es Konsens unter Christen, dass die Bibel eine buchstäbliche 7-Tage-Schöpfungswoche und eine junge Erde vertrete, bis Darwin mit seiner Evolutionslehre daherkam und die Aufklärung in Europa diesen Glauben erschütterte. Nun gab es zwei Möglichkeiten: stur die wissenschaftlichen Erkenntnisse ignorieren und darauf bestehen, dass die Bibel doch recht hat oder einsehen, dass die Bibel Irrtümer enthält und sich von ihr abwenden.

Auf viele Menschen mag das tatsächlich zugetroffen haben. Viele andere jedoch gingen einen dritten Weg, der weder in das eine noch in das andere Extrem führte. Dieser bestand darin, sowohl die Aussagen der Bibel als auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse unvoreingenommen zu prüfen und sich die Frage zu stellen: Kann es sein, dass ich etwas übersehe und die Daten nicht richtig deute?

Christen sind davon überzeugt, dass Gott sich sowohl in den Aussagen der Bibel als auch in seiner Schöpfung offenbart und das zwischen beiden kein Widerspruch besteht. 

Fakt ist jedoch, dass Christen lange vor Darwin und der Aufklärung den biblischen Schöpfungsbericht nicht wie Junge-Erde-Kreationisten im Sinne einer jungen Erde auslegten.

Im Folgenden möchte ich einen kleinen Streifzug durch die Kirchengeschichte machen, um aufzuzeigen, dass Christen unterschiedlichster Herkunft den biblischen Schöpfungsbericht nicht wörtlich interpretiert haben. 

Wie kam es zur Vorstellung einer jungen Erde?

Fragen wir uns zunächst einmal, woher überhaupt die Auslegung einer jungen Erde kommt. Die Bibel beginnt bekanntermaßen mit der Erschaffung von Himmel und Erde, wobei der biblische Autor Gottes Schöpfungshandeln in einer sieben Tage Woche gliedert. Weil Gott allmächtig ist und er durchaus fähig wäre, diese Welt in einer buchstäblichen Woche zu erschaffen, nahm man an, dass die Tage als buchstäbliche 24-Stunden-Tage zu interpretieren sind (zumal das hebräische Wort für Tag (yom) normalerweise einen 24-Stunden-Tag meint.

Was das Alter der Erde anging, griff man auf die Geschlechtsregister aus 1. Mose 5 zurück. Dort lesen wir von der Ahnengalerie Adams und wie es mit seinen Nachkommen weiterging, bis sie schließlich bei Noah und seinen Söhnen endet. Jetzt war man der Meinung, dass man die Zahlen lediglich addieren müsste, um auf das genaue Alter der Erde zu kommen. Man ging davon aus, dass diese Genealogien lückenlose Chronologien waren.

Berühmt geworden ist hierbei James Ussher, der Erzbischof von Irland. In seinem Werk Annales veteris testamenti, a prima mundi origine deducti (Annalen des Alten Testaments, hergeleitet von den frühesten Anfängen der Welt) aus dem Jahr 1650, errechnete Ussher den Schöpfungstag auf den 23. Oktober 4004 v.Chr. Rechnet man jetzt noch die 2.000 Jahre nach Christus dazu, landet man (nach dieser Rechnung) bei einer Erde, die etwas über 6.000 Jahre alt ist. 

Das Problem dabei ist, dass diese Geschlechtsregister nicht dazu gedacht sind, um das Alter der Erde zu ermitteln. Natürlich hatten die biblischen Schreiber gute Gründe, die Genealogien in ihren Text aufzunehmen. Die Geschlechtsregister in der Bibel haben immer eine wichtige Funktion, die jedoch ganz unterschiedlich sein kann. Wolfgang Bloedorn schreibt dazu:

»Diese Genealogien sind literarisch in ihren Kontext eingebunden, sodass sie eine literarische Funktion erfüllen. Darüber hinaus können die Genealogien als lineare Genealogien eine gerade Linie von den Vorvätern zu den Nachkommen zeichnen oder als segmentierte Genealogien mehrere Nachkommenslinien überschauen; historisch können sie als ethnische Genealogien die Herkunft der Völker begründen oder als theologische Genealogien historische Ereignisse theologisch lokalisieren.«1

Es kann sein, dass manche Geschlechtsregister in der Bibel eine lückenlose Abstammung wiedergeben wollen. Das ist aber nicht immer der Fall. Wenn es heißt, dass Person X Person Y zeugte oder der Vater von Person Y war, dann muss das nicht die direkte lückenlose Abstammung bezeichnen. Es wird dann lediglich ausgesagt, dass aus Person X die Personen hervorgingen, die schließlich zu Person Y führten.

Wir wissen aus einigen biblischen Geschlechtsregistern, dass sie nicht lückenlos sind. Ein Beispiel dazu:

Der Stammbaum Jesu aus Matthäus 1

In Matthäus 1 zeichnet der Evangelist die Abstammungslinie Jesu nach, anfangend mit Abraham, dem Stammvater Israels. In den Versen 3-4 lesen wir: »Perez aber zeugte Hezron, Hezron aber zeugte Ram, Ram aber zeugte Amminadab, Amminadab aber zeugte Nachschon«. Zwischen Perez und Nachschon liegen ungefähr 450 Jahre! In 1. Mose 46 werden uns die Namen der Söhne Jakobs aufgezählt, die von Josef nach Ägypten geholt wurden. Perez und sein Sohn Hezron werden beide in Vers 12 genannt. Nachschon, der Sohn Amminadabs gehörte jedoch schon zur Generation der Wüstenwanderung (vgl. 4Mo 1,7), die vierhundert Jahre später lebte.

Matthäus gibt uns also keine lückenlose Abfolge der Geschlechter, sondern wählt sich die wichtigsten Persönlichkeiten heraus, die seinem Anliegen dienen. Auch einige Verse weiter, als Matthäus die judäische Königslinie aufzeichnet, lässt er mal eben drei Könige aus. Für seine antiken jüdischen Leser war das überhaupt kein Problem, weil sie diese Praxis bereits aus dem Alten Testament kannten. 

Wenn wir nun zur Genealogie in 1. Mose 5 kommen, geht es dem biblischen Schreiber in diesem Fall nicht um eine lückenlose Darstellung der Ahnengalerie, sondern um eine grobe Aufzeichnung der gottesfürchtigen Linie, die mit Adam begann und an dieser Stelle mit Noah endete. Dazwischen werden besondere Personen hervorgehoben, weil sie beispielsweise für ihre Gottesfurcht bekannt waren (z. B. Henoch) oder als große Patriarchen galten. 

Bibelwissenschaftler machen auch darauf aufmerksam, dass wir erst ab Abraham verlässliche Daten erheben können, weil wir erst ab seiner Zeit über ausreichend verlässliche historische Bezugspunkte aus der Weltgeschichte verfügen. 

Ein zweiter Grund, warum es sehr unwahrscheinlich ist, die Ahnengalerie als eine direkte Abfolge zu sehen ist diese, dass es dann bedeuten würde, dass die meisten der Patriarchen zur selben Zeit gelebt hätten und Noah dann nicht länger der einzig Gerechte auf Erden zur Zeit der Flut gewesen wäre. Francis Schaeffer schreibt:

»Wenn sie es nämlich wären, müssten Adam, Henoch und Methusalah Zeitgenossen gewesen sein, und das ist höchst unwahrscheinlich. Dann wäre es nämlich seltsam, dass die Bibel nichts über ihre Beziehung zueinander aussagt. Die Dinge liegen nach der Sintflut noch deutlicher auf der Hand; wenn hier die Genealogien Chronologien wären, hätten alle nachsintflutlichen Generationen, einschließlich Noahs, noch gelebt, als Abraham schon 50 Jahre alt war. Das scheint wirklich undenkbar.«2

Das nur kurz dazu, wie es dazu gekommen ist, dass einige Christen von einer jungen Erde ausgehen. Doch wie ich nun zeigen werde, war diese Auslegung keinesfalls Konsens in der Christenheit. Wie haben Christen unterschiedlicher Epochen den biblischen Schöpfungsbericht ausgelegt? Schauen wir uns dazu einige Beispiele an.

6 Führende Christen über die Interpretation des biblischen Schöpfungsberichts

Unter der patristischen Epoche (ca. 100 – 700 n.Chr.) verstehen Kirchenhistoriker die Anfänge der Christenheit, die Zeit der sogenannten Kirchenväter, die nach den Aposteln die Kirche mit ihren Lehren stark geprägt haben (zum Guten wie zum Schlechten). Einer dieser frühen Kirchenlehrer war Justin der Märtyrer. 

Justin der Märtyrer

Justin der Märtyrer (ca. 100 – ca. 165) war einer der ersten Apologeten der Christenheit und wollte seinen römischen Zeitgenossen aufzeigen, dass das Christentum keine Gefahr für sie darstellte. Für uns ist hier interessant, was er zum biblischen Schöpfungsbericht gesagt hat. 

In seinem Buch Dialog mit dem Juden Tryphon schrieb er:

»Denn da zu Adam gesagt war, daß er an dem Tage, an dem von dem Baume ißt, sterben werde, hat Adam, wie wir wissen, tausend Jahre nicht vollendet. Daß sich auch das Wort: ›Ein Tag des Herrn ist wie tausend Jahre‹ auf unsere Lehre bezieht, steht uns fest.«3

Justin äußert sich zwar nicht direkt zum Schöpfungsbericht, aber er zitiert aus Psalm 90 (Ein Tag des Herrn ist wie tausend Jahre) und versteht die Bedeutung des Wortes »Tag« im biblischen Schöpfungsbericht als nicht wörtlich im Sinne eines 24-Stunden-Tages. Interessant ist auch, dass er seine Interpretation als »steht uns fest« bezeichnet. Anders gesagt: Justin argumentiert, dass er nicht der Einzige ist, der dieser Lesart folgt und das sie als gesichert gilt. 

Origenes

Origenes (ca. 185 – ca. 254) gilt ebenfalls als einer der bedeutsamsten Kirchenväter, wenn er auch ein wenig abgedreht gewesen zu sein scheint (er soll sich selbst kastriert haben) und in manchen Punkten häretische Ansichten vertrat. Aber er war definitiv keine Randfigur in der frühen Kirche.

Im Gegensatz zu Justin äußerte er sich in seinem Werk De Principiis 4:16 ausführlicher über den Schöpfungsbericht und diejenigen, die ihn in einem buchstäblichen Sinn auslegten. Lauschen wir nun seinen Worten:

»Welcher vernünftige Mensch wird z. B. glauben, daß der erste und zweite und dritte Tag, Abend wie Morgen, ohne Sonnen Mond und Sterne geworden sei? Der erste sogar ohne Himmel? Wer ist ferner so einfältig, zu glauben, daß Gott nach Art eines landbauenden Menschen ein Paradis in Eden gegen Morgen gepflanzt, und einen sichtbaren und genießbaren Baum des Lebens darein gesetzt habe, so daß, wer mit körperlichen Zähnen dessen Frucht kostete, das Leben empfing, und anderseits einer der Erkenntnis des Guten und Bösen mächtig wurde, sobald er von diesem Baume genossen hatte? Wenn es ferner heißt, Gott habe gegen Abend im Garten gewandelt, und Adam sich hinter den Baum versteckt: so glaube ich, wird Niemand zweifeln, daß dies bildlich, unter einer scheinbaren nicht wirklichen, leibhaften Tatsache, einen geheimen Sinn andeute. Auch Kain, wenn er ›vom Angesichte Gottes weggeht‹, soll augenscheinlich den Leser aufmerksam machen, zu forschen, was Gottes Angesicht und was das Weggehen von demselben heiße. Was brauch’ ich weiter anzuführen, da jeder nicht ganz stumpfsinnige unzählige Fälle der Art sammeln kann, die zwar als Tatsache aufgezeichnet, aber nicht wörtlich so geschehen sind?«

Für Origenes scheint eine buchstäbliche Auslegung des Schöpfungsberichtes absurd zu sein, da der Text seiner Meinung nach geistlich gedeutet werden muss. 

Nun möchte ich nicht missverstanden werden. Ich bin kein Freund von Origenes und ich teile nicht alle seine Ansichten. So glaube ich beispielsweise, dass Gott einen tatsächlichen Baum in den Garten gestellt hat, um Adam das Konzept von Gehorsam und Ungehorsam vor Augen zu führen. 

Seine Haltung verdeutlicht jedoch, dass nicht alle Christen wie selbstverständlich den biblischen Schöpfungsbericht im Sinne der Junge-Erde-Kreationisten interpretiert haben. 

Ein weiteres Beispiel ist Cyprian von Karthago.

Cyprian von Karthago

Cyprian von Karthago (gest. 258) schrieb in seinem Werk Exhortation to Martyrdom

»Die ersten sieben Tage in der göttlichen Ordnung beinhalten siebentausend Jahre …«4

Cyprian ging also auch nicht von buchstäblichen 24-Stunden-Tagen aus, sondern von tausenden von Jahren. 

So weit einige Zeugnisse aus der Kirchengeschichte. Antoine Bret bemerkt dazu: 

»Das bedeutet weder, dass die Genesis nicht wörtlich zu nehmen ist, noch dass sie Recht hatten. Aber es bedeutet, dass einige aufrichtige Bibelgläubige Genesis 1 zu einer Zeit symbolisch lasen, als es noch keine wissenschaftlichen Hinweise auf ein altes Universum gab. Mit anderen Worten, sie taten dies nicht, weil sie sich dazu gezwungen fühlten, um es mit ihrer modernen Wissenschaft in Einklang zu bringen.«5

Schauen wir uns noch zwei weitere Prominente Christen aus einer späteren Epoche an.

John Wesley

John Wesley (1703 – 1791) war ein methodistischer Geistlicher und eine Schlüsselfigur in der sogenannten »großen Erweckung« in England und Amerika. Er sagte nun in Bezug auf die Auslegung der Urgeschichte:

»Der inspirierte Schreiber dieser Geschichte [Genesis] … [schrieb] zuerst für die Juden und beschrieb, indem er seine Erzählungen dem kindlichen Zustand der Kirche anpasste, die Dinge nach ihren äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungen und überließ es uns, durch weitere Entdeckungen des göttlichen Lichts in das Verständnis der darunter verborgenen Geheimnisse geführt zu werden.«6

Zwei Dinge fallen hier auf: 1) Wesley ging von der Inspiration der Bibel aus, war also davon überzeugt, dass Mose im Auftrag und unter der Leitung Gottes schrieb, der Text also tatsächliche Wahrheiten über Gott vermittelt. 2) Wesley erkennt an, dass der Schöpfungsbericht in einen gewissen Kontext hineingeschrieben wurde (den der Juden zur Zeit Moses) und die Ereignisse im Schöpfungsbericht aus ihrer Perspektive erzählt wurde. Für Wesley ist der Schöpfungsbericht weniger ein wissenschaftlicher Bericht der Ereignisse, sondern vielmehr ein pädagogischer Bericht, der die Leser etwas über den Schöpfer lehren soll. Auch Wesley hat den biblischen Schöpfungsbericht nicht zwingend buchstäblich verstanden, wie es Junge-Erde-Kreationisten tun.

Zur Zeit von Wesley hatten Geologen noch nicht die riesigen Knochen ausgestorbener Spezies ausgegraben und auch Darwin mit seinen Thesen von der Evolutionstheorie lagen noch in weiter Ferne. Schauen wir uns daher noch einen weiteren berühmten Christen an, der ein Zeitgenosse Darwins war – Charles Haddon Spurgeon.

Charles H. Spurgeon

Charles H. Spurgeon (1834 – 1892) war der berühmteste Pastor und Prediger im viktorianischen Zeitalter und wirkte in London. Spurgeon war überzeugt davon, dass die Bibel das inspirierte und somit irrtumslose Wort Gottes ist. Im Gegensatz zu den anderen vorgestellten Christen lebte er zu einer Zeit, als der biblische Schöpfungsbericht durch die liberale Theologie und den aufkommenden Darwinismus stark unter Beschuss stand. Hören wir also, was er zum biblischen Schöpfungsbericht zu sagen hat. 

Am 17. Juni 1855 hielt er eine Predigt über Römer 15,13 und gab dabei folgenden Kommentar ab:

»Wenn Sie aber im ersten Kapitel der Genesis nachsehen, werden Sie sehen, dass dort die besondere Kraftwirkung des Heiligen Geistes auf das Universum genauer beschrieben wird; Sie werden dann entdecken, was sein besonderes Werk war. In 1. Mose 1,2 lesen wir: ›und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf dem Grunde der Erde. Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.‹ Wir wissen nicht, wie weit die Zeit der Erschaffung dieser Erde zurückliegt – mit Sicherheit viele Millionen Jahre vor der Zeit Adams. Unser Planet hat verschiedene Stadien der Existenz durchlaufen, und auf seiner Oberfläche haben verschiedene Arten von Lebewesen gelebt, die alle von Gott geschaffen wurden.«7

Meines Wissens war Spurgeon kein Anhänger der theistischen Evolution, also der Vorstellung, dass Gott durch die Evolution alles Leben ins Dasein gebracht hat, aber er sah kein Problem zwischen dem biblischen Schöpfungsbericht und einer sehr alten Erde, die Lebewesen beherbergt hatte, die zu seiner Zeit bereits ausgestorben waren! Anders gesagt: einer der einflussreichsten und gleichzeitig bibeltreusten Prediger des 19. Jahrhunderts hatte überhaupt kein Problem mit der Vorstellung einer alten Erde und einem Zeitalter der Dinosaurier über mehrere Millionen Jahre. 

Wayne Grudem

Abschließend noch ein Beispiel von einem konservativen bibeltreuen Theologen, der ebenfalls an eine alte Erde glaubt. Wayne Grudem ist Professor für systematische Theologie und einer der größten Advokaten für die göttliche Inspiration der Bibel. Ich führe ihn hier deshalb auf, weil er sich inzwischen zu einer alten Erde bekennt – eine Meinung, die er nicht immer vertreten hat. 

In der ersten Ausgabe seiner biblischen Dogmatik aus dem Jahr 1994 (die deutsche Übersetzung erschien 2013) kommt er nach ausführlichem Abwägen der biblischen und wissenschaftlichen Argumente für und wider eine alte Erde zu dem Schluss:

»Obwohl unsere Schlussfolgerungen vorläufig sind, scheint die Bibel an diesem Punkt in unserem Verständnis leichter in dem Sinne verstanden werden zu können, dass sie die Sichtweise einer jungen Erde nahelegt (aber nicht erfordert), während die wahrnehmbaren Fakten der Schöpfung zunehmend die Sichtweise einer alten Erde zu begünstigen scheinen. Beide Auffassungen sind möglich, aber keine von ihnen ist sicher.«8

Inzwischen ist Wayne Grudem ein überzeugter Alte-Erde-Kreationist. 2020 erschien seine gründlich überarbeitete Version seiner systematischen Theologie, in der er u.a. noch stärker für eine alte Erde plädiert. Sein Fazit liest sich nun so:

»Was meine persönliche Ansicht betrifft, so kann ich sagen, dass mir die Perspektive der alten Erde überzeugender erscheint. Die Argumente für eine alte Erde, die sich auf viele Arten von wissenschaftlichen Daten aus verschiedenen Disziplinen stützen, scheinen (zumindest mir) überzeugend zu sein. Dies gilt insbesondere für Argumente, die sich auf die sich die anhäufenden Beweise verschiedener Aspekte der Astronomie und verwandter Disziplinen stützen, sowie auf die Beweise aus fossilen Gesteinen, Korallenriffen, der Kontinentalverschiebung und der Ähnlichkeit der Ergebnisse verschiedener radiometrischer Datierungen. All diese Faktoren scheinen überzeugende Beweise für ein 13,8 Milliarden Jahre altes Universum und eine 4,5 Milliarden Jahre alte Erde zu liefern.

Mir ist klar, dass die Befürworter einer jungen Erde mit meiner Einschätzung dieser Beweise nicht einverstanden sein werden. Sie werden einwenden, dass die Lichtgeschwindigkeit vielleicht ganz anders war, dass die Datierung von Tierfossilien vielleicht ganz anders sein sollte, dass die Geschwindigkeit der Bildung von Korallenriffen vielleicht ganz anders war, dass die Geschwindigkeit der Sedimentablagerung in Seen vielleicht ganz anders war, dass die Geschwindigkeit der Bewegung der tektonischen Platten der Erde vielleicht ganz anders war, dass die Zerfallsgeschwindigkeit radiometrischer Elemente in Gesteinen vielleicht ganz anders war, und so weiter. Irgendwann hört sich das für mich an wie: ›Wenn die Fakten anders wären, würden sie meine Position unterstützen.‹ Aber die Fakten sind nun mal nicht anders.«9

Fazit

Wie wir gesehen haben, gab es zu allen Zeiten führende Christen, die den biblischen Schöpfungsbericht nicht in einem wortwörtlichen Sinn ausgelegt haben, wie Junge-Erde-Kreationisten es tun. Zu behaupten, dass die buchstäbliche Auslegung die einzig geistliche und richtige sei, wird weder dem biblischen Text noch dem Erbe der Kirchengeschichte gerecht.


Fußnoten

  1. Wolfgang Bloedorn, »Chronologie«, in Einleitung in das Alte Testament – ein historisch-kanonischer Ansatz, Brunnen, 2023, S. 149. ↩︎
  2. Francis Schaeffer, Genesis in Raum und Zeit, R. Brockhaus: Wuppertal, S. 94. ↩︎
  3. Justinus, Dialog mit dem Juden Tryphon, Bibliothek der Kirchenväter, Marixverlag, 2005, S. 173. ↩︎
  4. Cyprian von Karthago, Ad Fortunatum (de exhortatione martyrii), Bibliothek der Kirchenväter, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-45-1/versions/exhortation-to-martyrdom-addressed-to-fortunatus/divisions/31#fnref1:3783 (aufgerufen am 09.12.23). ↩︎
  5. Antoine Bret, The World is not six thousand years old – so what? Cascade Books (Eugene, Oregon), 2014, S. 7. ↩︎
  6. John Wesley, Wesley’s Notes on the Bible (Grand Rapids, MI: Francis Asbury Press, 1987), S. 22, zitiert in Falk, Coming to Peace, S. 35.  ↩︎
  7. https://www.spurgeongems.org/sermon/chs30%20E.pdf (aufgerufen am 11.12.23) ↩︎
  8. Wayne Grudem, Biblische Dogmatik – eine Einführung in die Systematische Theologie, VKW / arche-medien, Bonn / Hamburg, 2013, S. 342. ↩︎
  9. Wayne Grudem, Systematic Theology: An Introduction to Biblical Doctrine (Second Edition), Zonvervan: Grand Rapids, MI, 2020, S. 421. ↩︎

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