19 Jahre vor Tirans Reise, in Sarrutum, an der Grenze zum Diráz-Gebiet.

Je tiefer sie in den Wald eindrangen, umso größer wurde alles. Wenn Zao nach oben blickte, konnte er das Ende der riesigen Bäume nicht mehr erkennen, das sich irgendwo weit über ihm in einem Meer aus Grün verlor. Auch andere Pflanzen nahmen an Auswüchsen zu. Er beobachtete seinen Vater, Hudad, wie dieser mit seinem langen Haumesser einen Farnwedel zur Seite schob, der so groß wie er selbst war. Schweiß glänzte matt auf dem freien Oberkörper seines Vaters und so wie er sich zwischen den Pflanzen bewegte wirkte es auf Zao so, als ob er vollkommen nackt durch den Dschungel lief. Das war natürlich nur ein Irrtum, doch Zao hatte den Eindruck, als ob der Wald ihm einen optischen Streich spielen wollte. Baumranken gaben sich als lauernde Schlangen aus und Wurzeln und Äste tauchten aus dem Nirgendwo auf, um ihm zum Stolpern zu bringen oder in Seite zu stechen. 

Bisher hatte er sich für einen tapferen Kerl gehalten und unter den Dorfkindern hatte er sich in vielen Prügeleien einen gewissen Ruf verschafft. 

Doch das hier war eine völlig andere Welt, die ihn mit jedem Schritt, den er murrend und fluchend tat auszulachen schien. Sein Vater hingegen schien hier zu Hause zu sein. Seelenruhig und mit wachsamen Augen bahnte er ihnen einen Weg durch das Dickicht. Es war, als ob der Dschungel ihn mit neuer Lebenskraft beschenkte. Seit Zao denken konnte, litt sein Vater unter einem kaputten Fuß, den er sich bei einem Unfall vor Zaos Geburt zerquetscht hatte. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, hinkte sein Vater, wenn er im Dorf oder auf dem Feld unterwegs war. Hier gab es außer Zao und seinem Halbbruder Nunaán keine weiteren Beobachter, doch sein Vater schlich so mühelos durch den Dschungel, als hätte er zwei gesunde Füße.

Dieser Ort ist wirklich seltsam.

Nunaán, der sich dicht bei seinem Vater hielt, warf einen besorgten Blick zu seinem Halbbruder. 

Wahrscheinlich will er sich vergewissern, ob ich noch da bin und nicht von einem Raubtier geschnappt wurde. 

Ihr Vater blieb stehen und drehte sich zu Zao um. Er lächelte seinem Sohn aus seinen grünen Augen aufmunternd zu. Gleich habt ihr es geschafft, schien sein Blick zu sagen. 

Zao stöhnte, doch er sagte nichts. Sein Vater hatte ihn und seinen Halbbruder Nunaán streng angewiesen, nicht zu viel Lärm zu machen, wenn sie im Dschungel unterwegs waren. Das hier ist nicht unser Gebiet. Wir sind hier nur Gäste und verhalten uns entsprechend, hatte er ihnen eingeschärft, als sie am Boden der steilen Felswand angekommen waren. 

Doch das hätte er seinen beiden Söhnen nicht sagen müssen. Jedes Kind im Dorf wusste, dass hinter der Schlucht das Diráz-Gebiet begann – und da ging man nicht hin. Die anderen Eltern schärften ihren Kindern schon früh ein, sich nicht an den Rand der Schlucht zu wagen, denn wer einmal die steile Felswand hinunterfiel, war unweigerlich verloren. 

Nur unser Vater ist so verrückt, uns hierher in den Wald zu führen.

Zao trabte zu seinem Vater und Nunaán. Er konnte nicht sagen, ob sie bereits eine oder mehrere Stunden unterwegs gewesen waren. Die Zeit schien hier still zu stehen und Zao kam es so vor, als wenn er sich in einer völlig anderen Welt befinden würde. In ihrem Dorf war es heiß und staubig, die Erde um ihre Hütten war rotbraun und von der Sonne hartgetrocknet. Die Luft war erfüllt vom Rufen der Männer, dem Singen der Frauen und dem Spielen der Kinder. Es roch nach Kuhmist und Feuer. Hier war alles anders. Die Sonne drang kaum durch das Blätterdach hindurch, sodass Zao das Gefühl hatte in einer großen, dampfenden Höhle unterwegs zu sein. Nie hätte er gedacht, dass er so viele Varianten von Grün sehen würde. Und still war es hier. Beängstigend still. Ab und zu erschreckte ihn ein Vogelschrei oder der eines anderen Tieres, dass er jedoch nie zu Gesicht bekam und immer weit entfernt zu sein schien. Am liebsten hätte er manchmal laut geschrien oder ein Lied gesungen, um diese fremde Welt mit etwas Vertrautem zu füllen, doch das hatte sein Vater ihm streng untersagt. Je weiter sie gingen und je größer Zao sich der Ausmaße des Waldes bewusst wurde, desto mehr reifte in ihm die Vorstellung, dass ihr Dorf nur eine kleine Insel in einem riesigen Meer aus grün war. Und über eines war Zao sich im Klaren: Ohne ihren Vater würden sie den Weg zum Dorf zurück nicht finden. Von ihrem Dorf aus, das ein wenig erhöht lag, hatten sie einen guten Überblick über den Dschungel, der sich in endlose Ferne zu erstrecken schien. Er hatte seinen Vater vor einiger Zeit gefragt, welche Länder hinter dem endlosen Wald lägen, doch sein Vater, der weitgereister zu sein schien als jeder andere Mann im Dorf, hatte nur die Achseln gezuckt und gesagt, das wisse er nicht. 

Wir sind im endlosen Wald, der keinen Namen hat. 

Zao warf einen Blick nach hinten und suchte einen Anhaltspunkt, an dem er sich zur Not orientieren konnte. Doch er musste sich eingestehen, dass er jede Orientierung verloren hatte. Jeder Baum glich dem anderen und die anderen Pflanzen wuchsen so dicht, dass er kaum mehr als zehn Meter weit schauen konnte. 

Vater kennt den Weg. Er ist ihn schon oft gegangen. 

Als er sich wieder umdrehte, stieß er mit seinem Bruder zusammen. Erschrocken fuhr er zusammen und schrie laut auf. 

»Pass doch auf, du Trottel!«, sagte Zao.

»Still!«, mahnte ihn sein Vater und legte einen Finger auf die Lippen. 

»Ist ja gut«, sagte Zao, rieb sich die angestoßene Nase, und warf Nunaán einen finsteren Blick zu. »Wie weit müssen wir denn jetzt noch gehen?«

»Nicht mehr weit«, antwortete sein Vater. »Wir sind gleich da.«

Zao seufzte und sah, wie sein Halbbruder sich nervös umblickte, so als ob er befürchtete, dass Zaos Aufschrei Scharen vonRäubern anlocken würde. Rasch rannte er zu ihrem Vater und nahm ihn an der Hand. 

Zao schnaubte verächtlich. Er gestand sich ein, dass er sich hier nicht wohl fühlte, aber er fand die offenkundige Angst seines Bruders übertrieben, auch wenn dieser erst sechs Jahre alt war.

Was soll’s, er ist halt ein ängstlicher kleiner Kerl.

Zao wusste, dass Nunaán sich nicht nur vor den anderen Dorfkindern fürchtete, sondern vor allem vor dem, was hier in diesen Wäldern hauste. Seit sie vor ungefähr drei Jahren an diesen abgeschiedenen Ort umgesiedelt wurden, schlief Nunaán immer noch dicht neben seiner Mutter und konnte manchmal nachts nicht schlafen, wenn Schreie wie aus einer anderen Welt aus dem Wald in ihre Hütten drangen. 

Doch ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie beide ihn heute bei seinem Ausflug ins Diráz-Gebiet begleiteten. Er wollte ihnen etwas Wichtiges zeigen. Zao folgte seinem Vater und Nunaán durch dichtes Gebüsch, bis ihr Vater plötzlich stehenblieb. 

»Kommt her«, sagte Hudad und winkte seine Söhne zu sich. Zao, der etwas hinter seinem Vater gelaufen war, stellte sich jetzt neben ihn und was er sah, verschlug ihm die Sprache. 

Sie waren am Rand eines großen Felsens angekommen. Das Gelände vor ihm fiel abrupt ab und Nunaán klammerte sich an seinen Vater. Zao sah auf eine kleine Lichtung hinab, die sich weiter unter ihnen befand und von undurchdringlichem Dschungel umgeben war. In der Mitte der Lichtung war eine Wasserstelle, an der sich viele Tiere zum Trinken versammelt hatten. Tiere, die weder Zao noch sein Bruder jemals zu Gesicht bekommen hatten. Selbst aus der Entfernung machten sie einen mächtigen Eindruck auf Zao. Da waren große Tiere, die größer als ihre Dorfhütten zu sein schien. Sie standen auf mächtigen Hinterläufen und hatten die riesigen Köpfe zum Saufen gesenkt. Andere Tiere liefen auf vier Beinen und waren stark gepanzert oderhornbewehrt. Die Tiere standen dicht gedrängt und einige von ihnen stießen laute Töne von sich. Zwischen den großen Tieren liefen zahlreiche kleinere auf zwei Beinen umher. Abwechselnd senkten sie die Köpfe, um zu trinken, dann fuhren sie ruckartig hoch, um nach umherfliegenden Insekten zu schnappen. Ihre Bewegungen erinnerten Zao an Vögel, nur dass sie keine Federn hatten, sondern eher wie Echsen aussahen.

»Sind das die Diráz?«, fragte Zao nach einer Weile.

Hudad nickte. 

»Ja, das sind die Diráz, die man Dinosaurier nennt. Hier treffen sie sich zum Trinken. Wenn sie ihren Durst gestillt haben, werden sie wieder ihre eigenen Wege gehen. Ich habe diesen Ort schon vor längerer Zeit entdeckt und wollte ihn euch zeigen.«

Die beiden Jungs sahen ihren Vater erstaunt an.

»Warum? Warum hast du uns hierhergebracht?«, fragte Zao, da Nunaán noch zu sehr von den Tieren abgelenkt war, um etwas sagen zu können. 

Hudad sah Zao ernst an. »Weil ihr beide älter werdet und ich es für wichtig halte, dass ihr beide wisst, was hinter den Landesgrenzen lebt.«

Er war zwischen seinen Söhnen in die Hocke gegangen und hatte jedem eine Hand auf die Schulter gelegt. Gemeinsam betrachteten sie das Panorama am Wasserloch.

»Hört gut zu, Jungs«, begann er, »das Diráz-Gebiet ist kein Ort, wo ihr spielen könnt. Es hat seinen guten Grund, warum die Menschen nicht hierherkommen. Es ist kein ungefährlicher Ort. Aber es mag eines Tages der Moment kommen, an dem euer Weg euch trotzdem durch das Diráz-Gebiet führen wird. Und dann möchte ich, dass ihr wisst, was euch erwartet.«

»Lässt du uns alleine?«, fragte Nunaán ängstlich.

Hudad lächelte ihn an und drückte ihn. »Nein, mein Sohn. Natürlich lasse ich euch nicht hier alleine. Aber wenn ich oder deine Mutter einmal nicht da sein werden, halte dich an deinen Bruder. Solange du mit Zao unterwegs bist, hast du hier nichts zu befürchten. Ihm werden die Diráz nichts tun.«

Zao sah seinen Vater an. Die Art und Weise, wie er das sagte, ließ ihn aufhorchen. Er schien von seinen Worten völlig überzeugt zu sein, als hätte Zao irgendwelche magischen Kräfte, die ihn vor den Dinosauriern beschützen.

»Wie kannst du dir so sicher sein, dass die Dinosaurier mir nichts tun?«, fragte er.

Hudad sah ihn an. »Weil du mein Sohn bist, Zao und ich weiß, dass du ein mutiger Kerl bist.«

Er sah Zao eindringlich an, bis dieser den Blick abwandte. Eine Weile betrachteten sie schweigend das Kommen und Gehen am Wasserloch. Schließlich sagte ihr Vater: »Schaut mal, mit uns ist es so ähnlich wie mit diesen Tieren da unten am Wasserloch. Ihr erkennt sicher, dass es unterschiedliche Arten sind. Manche sind größer als andere, einige sind schneller andere langsamer, einige können sich besser gegen Fressfeinde wehren als andere. Aber sie geben aufeinander Acht. Seht ihr die großen Tiere, mit dem Nackenschild und den zwei großen, geschwungenen Hörnern über den Augen?«

Die Jungen nickten. Die Tiere hatten die massigen Schädel zum Saufen gesenkt. Ihre Knochenschilde waren bunt gemustert. Zao fand sie recht hübsch – zumindest aus weiter Entfernung betrachtet.

»Diese Diráz nennt man Triceratops und sie gehören zu den Dirázan, den Pflanzenfressern«, erklärte Hudad. »Sie bewegen sich etwas schwerfällig und können nicht gut sehen, doch wissen sich zu verteidigen. Während sie trinken, sind sie jedoch verwundbar, weil sie nicht mitbekommen, was um sie herum geschieht. Doch vielleicht fällt euch auf, dass andere Diráz ihre Umgebung aufmerksam beobachten.«

Zao beobachtete die Tiere aufmerksam. Dann sah er sie. Einige Diráz hatten sich auf ihren Hinterläufen aufgerichtet und schauten sich immer wieder um.

»Da, diese kleineren Diráz, die mit der grünen Haut, recken immer wieder die Köpfe hoch und scheinen sehr aufmerksam zu sein«, sagte er.

Hudad nickte.

»Gut beobachtet, mein Sohn. Du hast recht. Diese Diráz können sich nicht gut zur Wehr setzen, aber im Gegensatz zu den Triceratops sind sie flink und können gut sehen. So halten sie Ausschau nach einem Fressfeind, während die anderen Trinken. Sie sind wie eine große Familie, in der man aufeinander achtgibt. Und genau das wünsche ich mir auch von euch beiden.«

Zao nickte. Er verstand, was sein Vater ihm sagen wollte. Nunaán schien gar nicht hingehört zu haben, sondern betrachtete nur staunend die Diráz.

Irgendwann fragte Zao: »Woher weiß man, welche gefährlich sind und welche nicht?«

Hudad überlegte kurz. »Viele Dinosaurier können dem Menschen gefährlich werden, wenn man sie reizt. Aber merke dir dies: Alle Fleischfresser laufen auf zwei Beinen und sind ziemlich schnell unterwegs. Das müssen sie sein, um erfolgreich bei der Jagd zu sein. Wenn euch also ein Diráz auf vier Beinen begegnet, ist es immer ein Pflanzenfresser. Kommt ihnen nicht zu nahe, wenn es sich vermeiden lässt. Aber selbst wenn euch welche begegnen sollten, denke immer daran: Bleibt stets zusammen. Die Diráz werden dir nichts tun, Zao.«

Zao nickte, auch wenn er nicht die Zuversicht seines Vaters teilte. Er wollte zurück zum Dorf, auch wenn dort die Maisernte auf ihn wartete. Trotz der Erklärungen seines Vaters fühlte er sich hier verloren und er hatte nicht vor, mit seinem kleinen Bruder an der Hand ausgedehnte Ausflüge ins Diráz-Gebiet zu unternehmen. 

»So, dann kommt mal mit«, sagte Hudad schließlich und stand auf. »Wenn wir schon mal hier sind, können wir noch einige nützliche Pflanzen einsammeln, bevor wir ins Dorf zurückkehren.«

Er drehte sich um und stapfte los, Nunaán dicht hinter ihm. Zao warf einen letzten Blick auf die Dinosaurier, dann folgte er seinem Vater. Er wusste, dass sein Vater nur ins Diráz-Gebiet ging, weil dort einige Pflanzen wuchsen, die er zu Medizin verarbeiten konnte. Was für einen Grund sollte man auch sonst haben, hierherzukommen? 

Plötzlich ertönte ein lautes Brüllen, irgendwo weit unter ihm im Dschungel. Die Bäume erzitterten und einige Vögel stoben laut zeternd davon. Die Dinosaurier am Wasserloch rissen erschrocken ihre Köpfe nach oben und sahen zum Wald hin. Doch dann entspannten sich einige von ihnen wieder und soffen weiter. 

Zao Herz klopfte. Er wollte hier weg. Rasch lief er zu seinem Vater und ließ das Wasserloch hinter sich.